Sorgenvolle Tage
Inmitten all der Hoffnungslosigkeit erwies sich die Zusammenarbeit mit dem Bord-Komitee als äußerst wertvoll. Durch den Hinzutritt der Herren S. Gutmann und Dr. Ernst Vendig hatte es neuen Auftrieb erhalten. Ich glaube kaum, dass ich dem damaligen Nervenkrieg an Bord ohne unsere täglichen Besprechungen gewachsen geblieben wäre. Wir schickten jeden Tag mehrere Telegramme nach Hamburg, um der Direktion die Krisenstimmung auf dem Schiff klarzulegen und um endlich aus unserer Irrfahrt herauszukommen. Der Wortlaut wurde in deutscher Sprache aufgesetzt. Nachts übersetzte ich ihn ins Englische, da unser Privatcode in dieser Sprache verfasst war, und dann kam noch das Chiffrieren. So verstrichen die düsteren Nächte, in denen ich doch nicht hätte schlafen können.
Außer dem Bord-Komitee gab es noch ein von Herrn Gustav Weil gebildetes Seelsorgekomitee, das die Aufgabe hatte, bei den zahlreichen Nervenzusammenbrüchen Beistand zu leisten. Die Ärzte hatten genügend andere Patienten. Sie brachten die ganz verzweifelten Gemüter zu mir, und wenn kein Trostzuspruch mehr half, musste eben zu einer Notlüge gegriffen und eine Landung in England versprochen werden. Herr Weil und ich sind bei dieser Zusammenarbeit Freunde geworden. Ich entsinne mich auch, dass in diesen Tagen Herr Leo Haas und seine Gattin bei mir waren. Die Worte der feinen Frau klingen mir noch in den Ohren: “Herr Kapitän, Sie wissen doch, wir können gar nicht zurückkehren. Alles haben wir dort verloren und das KZ wird unser Ende sein, das KZ oder … die Nordsee. Wenn Sie mit dem Schiff heil bis Cuxhaven hineinkommen, dürften Sie wohl etwa hundert Kabinen leer vorfinden, denn wir fürchten das KZ mehr als den Tod.” Ähnliches sagten mir auch andere.
Es waren auch einige Männer bei mir, die im KZ gesessen hatten. Als ich sie bat, ihre Erlebnisse zu schildern, schauten sie sich um, als ob sie Horcher fürchteten, worauf ich einwarf, ob es denn verboten sei, darüber zu sprechen. Sie sahen mich verlegen an und schwiegen. Dann sagte aber einer von ihnen: “Lieber Kapitän, ich wage tatsächlich nicht darüber zu sprechen, denn wer weiß, was uns noch bevorsteht. Aber Sie können mir glauben, lieber tot, als das noch einmal. In ihren Augen war eine furchtbare Angst vor der Rückkehr dorthin zu lesen, aber nicht minder eine feste Entschlossenheit, alles für die Rettung einzusetzen. Wer einmal mit Verständnis in solch verzweifelte Augen geblickt hat, vergisst es nicht.
Nun wunderte es mich auch gar nicht, als mir ein besorgtes Ehepaar, das mit seinen Kindern an Bord war, ein unten im Schiff tagendes Sabotage-Komitee verriet. Sie hatten es belauscht, als ein Plan besprochen wurde, in der Nordsee eine Katastrophe herbeizuführen. Man neige dazu, das Schiff in Brand zu stecken, aber es ständen noch andere früher durchzuführende Unternehmungen zur Diskussion, z.B. eine Meuterei. Im Augenblick konnte ich nichts weiter tun, als ihnen den Rat zu geben, ein Anti-Sabotage-Komitee zu gründen, um die Brandstifter zu kontrollieren, mit denen ich gerne selbst ein ernstes Wort gesprochen hätte, aber sie witterten den Verrat und gaben sich keine Blöße mehr. Es blieb mir nichts anderes übrig, als die Brücke in Verteidigungszustand zu setzen und überall im Schiff scharfe Kontrolle auszuüben.
Die Krisis
An dem Morgen des Tages, an dem mittags der bewusste Punkt erreicht werden sollte, erwachte ich bei Sonnenaufgang in meinem Ledersessel sitzend. Ich musste gegen vier Uhr nach Erledigung der Telegramme fest eingeschlafen sein. Leider war es nicht ein Traum, dass ich mit neunhundert verzweifelten Passagieren, die kein Land auf der ganzen Welt aufnehmen wollte, mitten auf dem Atlantik herumfuhr. Und ich empfand ein Unbehagen, als mir klar wurde, dass ich die Disziplin nicht mehr mit der Hoffnung auf eine Landung im Westen aufrecht erhalten konnte. Ich hatte jetzt die traurige Pflicht, meinen Passagieren reinen Wein einzuschenken über die Aussichtslosigkeit einer Landung in Amerika, die durch während der letzten Nacht eingelaufene Telegramme endgültig feststand. Auch im Osten blieb die Aufnahmebereitschaft aus. Von New York kam folgende Nachricht: “Wir bedauern...Betrachten aber die Antwort des Joint Committee als zutreffend.”
Die Antwort lautete: “Wir tun alles Menschenmögliche, um euch zu helfen. Wir bitten Euch, den Mut aufrecht zu erhalten und versichert zu sein, dass alle unsere Organisationen hier und im Auslande Tag und Nacht jede Minute für euch arbeiten.”
Ich wusste, dass niemand mehr Notiz von diesen Telegrammen nehmen, sondern ebenso wie ich nur die endgültige Absage Amerikas darin erkennen werde, und dass heute ein kritischer Tag erster Ordnung bevorstand. Nach einem kurzen Besuch auf der Kommandobrücke, um den Kurs auf den Englischen Kanal einsteuern zu lassen, ging ich durchs Schiff. Überall roch es nach Verzweiflung und Panik, überall trafen mich fragende Blicke. Vor dem Speisesaal begegnete ich zwei Herren vom Komitee, Dr. Joseph und Dr. Zellner, die auch keine Ruhe mehr fanden. Ich übergab ihnen die Telegramme mit den Worten: “Vom Westen nichts mehr zu hoffen. Ich bitte das Komitee um zehn Uhr zu mir.” Dr. Joseph antwortete mit: “Wie sag ichs meinem Kinde?” und Dr. Zellner setzte hinzu: “Kapitän, ich bin kein Feigling, aber vor der Fahrt durch die Nordsee habe ich direkt Angst!”. Ganz leise sagte ich ihm ins Ohr: “Ich auch!” Aber im Weitergehen kam mir mit solcher Plötzlichkeit ein rettender Gedanke, dass ich unwillkürlich stehen blieb. Ein Plan fiel mir ein, der gleich ausgearbeitet werden musste.
Der Erste Offizier schlief noch. Er hatte am Abend zuvor lange Dienst gehabt. Also ging ich zum leitenden Ingenieur, einem Frühaufsteher, der gerade beim Morgenkaffee saß. Ich kam bei ihm an die richtige Adresse. Auf meinen Wunsch hin gab er gleich durch das Telefon seinem Wachhabenden die Order, auf volle Umdrehungen zu gehen, woran noch einige fehlten. Dann nahm ich den Hörer, um den Wachhabenden auf der Brücke von den erhöhten Umdrehungen zu benachrichtigen. Daraufhin konnten wir in aller Ruhe meinen Plan besprechen.
Wenn uns keine Landung außerhalb Deutschland erlaubt werden würde, wollten wir - um die in der Nordsee zu erwartende Katastrophe zu verhindern - das Schiff an der Südküste von England bei Nacht oder Nebel und bei Ebbe ganz sanft auf den sandigen Strand setzen, eine Motorhavarie vortäuschen, einen großen Schiffsbrand markieren udn alle Passagiere mit den Booten landen. Das Feuer würden wir dann “heldenmütig” selbst löschen. Nach Abstransport der Schiffbrüchigen könnten wir später mit Schlepperhilfe wieder freikommen, bei Flut nämlich. Der Motorschaden könnte durch Selbsthilfe behoben werden. Pro forma müssten wir eben mit einem Motor fahren und nach der Entlassung durch die Schlepper würde - auf der Fahrt zum “Nothafen” - telegraphische Verabschiedung erfolgen. Einen Platz für das Manöver hatte ich mir schon ausgesucht. Es gab deren mehrere zwischen Plymouth und Dover.
Der Leitende Ingenieur gab mir noch manchen guten Rat bei der Ausarbeitung des Plans. Er hat darüber verabredungsgemäß anderen Menschen gegenüber nie ein Wort verloren, auch später nicht, als unser Täuschungsmanöver durch die Landung in Antwerpen überflüssig wurde. Doch auch wenn der Rettungspan nicht ausgeführt zu werden brauchte, mir gab er an diesem kritischen Tage die Besinnung, in Ruhe fertig zu werden mit dem, was folgte. Die zunehmende Nervosität auf dem Schiff trieb das Komitee schon vor zehn Uhr zu mir. Es musste inzwischen etwas von dem Abbruch der Beziehungen zur “Neuen Welt” durchgesickert sein. Während wir berieten, was zu tun sei, um die Passagiere zu beruhigen, erschien der Erste Offizier mit der Nachricht, dass im ganzen Schiff helle Aufregung herrsche, und dass man sich zusammentäte, um etwas zu unternehmen. Gleich darauf brachte ein Feuerwehrmann die Meldung, man sei schon unterwegs nach oben. “Das Sabotage-Komitee!” musste ich denken. Diesen verzweifelten jungen Männern war in der Erregung einiges zuzutrauen. Sie durften auf keinen Fall jetzt bis zu der im Verteidigungszustand befindlichen Brücke vordringen.
Was ich jetzt tat, tat ich instinktiv. Den Ersten Offizier bat ich beim Komitee zu bleiben und eilte dann zur Haupttreppe hinab. Die erregten Menschen kamen mir schon lärmend entgegen. Mit dem Ruf: “Halt, wohin wollen Sie?” stellt ich mich vor die Treppe, und tatsächlich, sie stutzten. Weiter vermochte ich aber mit meiner Stimme nicht durchzudringen. Ich wurde umringt. Alles schrie durcheinander. Es fielen Worte wie: “Wir wollen nicht zurück nach Europa!” “Wir zwingen ihn umzukehren!” “Wir stiften Brand!” Da kam mir einer der Männer aus der Menge zu Hilfe, indem er laut brüllte: “Ruhe, der Kapitän will reden!” Das wirkte. In das erwartungsvolle Schweigen hinein konnte ich jetzt mit gutem Gewissen versprechen, dass eine Landung in England schon irgendwie gemanaged werde, nur bat ich dringend, keinesfalls etwas Unüberlegtes zu unternehmen, um sich diese Chance nicht zu verderben. Die Angelegenheit musste aber noch zu einem erfolgreichen Abschluss kommen; so setzte ich sofort eine Vollversammlung in der großen Halle an und bat um Bekanntgabe der Zusammenkunft bei allen Passagieren. Diszipliniert richteten sich die eben noch so erregten Männer nach meiner Anweisung, und die Halle füllte sich.
Das Komitee atmete erleichtert auf, als ich zurückkam und über die glückliche Wendung berichtete. Einer der Herren sollte nun vor der Vollfversammlung eine wirksame Ansprache halten. Bisher hatte sich das Komitee - wohl auch mit Recht - von Vollversammlungen nichts versprochen. Zu diesem kritischen Zeitpunkt aber wurden sie notwendig.
Auf dem Weg zur Halle wechselten wir einige vertrauliche Worte und gleich darauf standen wir vor neunhundert im wahrsten Sinne des Wortes Heimatlosen. Dabei ergriff mich selbst ein Gefühl der Heimatlosigkeit. Mir war, als ob die ganze “St. Louis” von der Welt ausgestoßen sei und jetzt versuchen müsste, diesen ungastlichen Planeten zu verlassen; denn auf eine Anerkennung ihrer prosemitischen Haltung konnte die Besatzung des Schiffes bei der Regierung nicht rechnen. Aber gerade dieses Gefühl gab mir das volle Verständnis für die trostlose Lage meiner Passagiere und ließ mich die richtigen einleitenden Worte finden. Ich bat dann den Präsidenten des Komitees, Dr. Joseph, das Wort zu ergreifen, und er erfüllte seine Aufgabe wie eine Mission.
Noch heute bedauere ich, den Text dieser Stegreifrede nicht aufgeschrieben zu haben. Sie war inhaltlich und formell ein Meisterwerk. Dr. Joseph, pflanzte in alle Herzen Vertrauen und rief zu einer würdevollen Haltung auf: “Komme auch, was da kommen mag. Die ganze Welt schaut auf uns!” rief er. Und aus dem Verhalten der schwergeprüften Menschen konnte man in den nächsten Tagen schließen, wie seine Worte gewirkt hatten.
Westeuropa erbarmt sich
Natürlich berichtete ich in einem verschlüsselten Telegramm den Vorfall nach Hamburg. Dort setzte sich jetzt gleichfalls die Überzeugung durch, dass eine Fahrt durch die Nordsee unverantworlich wäre, und dass nur eine Landung in Westeuropa die Emigranten noch retten könne. Die Hamburg-Amerika Linie leitete entsprechende Verhandlungen ein. Drei Tage später führten sie zu dem Angebot, eine Landung in Antwerpen vorzunehmen zwecks Verteilung der Emigranten auf England, Frankreich, Holland und Belgien. Die Hapag sandte uns ein sehr geschickt abgefasstes Telegramm, das schon auf die beabsichtigte Lösung hindeutete und den Fahrgästen nahelegte, Ruhe und Ordnung zu bewahren, damit die Landunsgmöglichkeiten nicht beinträchtigt würden.
Die gefasste Stimmen der Emigranten blieb durch Vollversammlungen aufrechterhalten. Jeden Morgen trafen wir uns in der großen Halle. Nach drei Tagen gingen die endgültigen und positiven Nachrichten über das Anlaufen von Antwerpen ein. Wenn auch manche Passagiere durch die vielen Enttäuschungen misstrauisch geworden waren, so machte sich doch bald Entspannung und Zufriedenheit bemerkbar. Man sah wieder zuversichtliche Menschen und hörte Musik, die wochenlang unerwünscht war.
Die Landung in Antwerpen musste schnell vonstatten gehen, da die “St. Louis” jetzt doch noch in den Vergnügungsreisen-Fahrplan von New York einspringen sollte, von dem sie schon entbunden war. Mit vollen Umdrehungen und Windstärke 7 bis 8 von Achtern brausten wir ostwärts. In einem Telegramm nach Vlissingen verpflichtete ich mich, in zwei Tagen präzise um 9 Uhr dort zu sein.
Leider sollte aber auch dieser Endspurt nicht ohne tragischen Zwischenfall verlaufen. Mein bester Steurer, Kritsch mit Namen, wurde vermisst. Man hatte ihn zuletzt bei der Flaggleine auf dem Achterdeck gesehen. Nach gründlicher Durchsuchung des Schiffes fanden wir ihn schließlich in einem kleinen Abstellraum im Vorschiff, wo er seinem Leben selbst ein Ende gemacht hatte. Gott mag wissen, warum. Sein Tod bedeutete für die Hamburg-Amerika Linie und für mich einen unersetzlichen Verlust, denn einen zuverlässigeren Mensch gab es kaum. Der Gedanke an die grausame Endgültigkeit des Todes bedrückte mich zum dritten Mal auf dieser Reise.
Die einzigen, die in all den schweren Tagen unbekümmert blieben, waren die Kinder der Passagiere. Ja, sie freuten sich, länger an Bord bleiben zu können und nahmen ihr Schicksal höchstens spielerisch wichtig, indem sie ein Spiel mit dem Namen erfanden: “Juden haben keinen Zutritt.” An einer aus Stühlen hergestellten Barriere standen zwei Jungs mit strenger Amtsmiene und verhörten die Einlass begehrenden Kameraden. Ein kleiner Berliner, der an der Reihe war, wurde barsch gefragt: “Bist du ein Jude?” Als er dies kleinlaut bejahte, wiesen sie ihn streng zurück: “Juden haben keinen Zutritt!” - “Ach”, bat der Berliner Junge, “ lassen se mir man durch, ick bin doch blos´n janz kleener.”
Emigrantenschicksal
Pünktlich trafen wir in Antwerpen ein dank dank des günstigen Wetters, dank des zuverlässigen technischen Betriebes des Schiffes und dank der vernünftigen Haltung der Besatzung, die eine Aufgabe gemeistert hatte, welche nicht nur Kraft und Ausdauer, sondern auch viel Takt und Geduld erforderte. Häufig wurde die Besatzung durch das Bord- und Seelsorger-Komitee entlastet. Diese Tatsache verdient besondere Erwähnung. Alle Hilfeleistungen hätten aber kaum etwas genutzt, wenn die Fahrgäste selbst nicht so zugänglich gewesen wären. Ihr dankbares Abschiednehmen vor der Landung in Antwerpen war rührend und bewegte mich tief und unvergesslich. Umso stärker empfinde ich deshalb auch die Trauer darüber, dass viele der Armen, die sich in Frankreich, Holland und Belgien in Sicherheit glaubten, später durch den wahnsinnigen Krieg doch noch in die Hände von Verbrechern fielen und umkamen. Der Gedanke, dass es Menschen gegeben hat, die erst im K.Z. waren, dann die Passionsfahrt der “St. Louis” mitmachten, um schließlich im K.Z. elendig zu verenden, ist mehr als bedrückend. Nur von wenigen der auf dem Festland untergebrachten Emigranten der “St. Louis” weiß ich, dass sie noch am Leben sind. Hierzu gehören: Dr. Ernst Vendig und Familie, Arthur Maschkowsky, Adolf Wolff und Familie, Leo Hass und Frau.
Mit folgenden Herren der England-Gruppe, die vollzählig gerettet worden ist, stehe ich noch in Verbindung: Gustav Weil, Dr. F. Kassel, Dr. F. Zellner.
Von den Flüchtlingserlebnissen der Familie Wolff und Vendig will ich noch berichten. Adolf Wolff war mit Frau und Tochter in Nordfrankreich und flüchtete beim deutschen Einmarsch unter schwierigsten Umständen unter großem Gedränge nach Marseille, wo es ihnen gelang, einer Internierung zu entgehen; aber 1942, als alle Juden gesucht wurden, blieb nichts anderes übrig als eine Flucht in die Schweiz. Dass dieses abenteuerliche Unternehmen glückte, kommt ihnen selbst noch immer unglaublich vor. Erst 1947 konnten sie nach Nordamerika fahren.
Dr. Ernst Vendig war mit seiner Frau und zwei Kindern und seiner siebzigjährigen Mutter in Brüssel, als der deutsche Einmarsch erfolgte. Er wurde interniert und kam, nachdem er zwölf verschiedene Lager kennengelernt hatte, zuletzt in die Gegend von Aix-en-Provence. Der erste Versuch seiner Familie, in seine Nähe zu kommen, blieb im Bombardement bei Dünkirchen stecken. Aber später gelang es trotz aller Schwierigkeiten. 1942 brachte auch hier den Beginn der Deportation aller Juden nach Polen. Die ganze Familie kam in ein Sammellager, wo sie sechs Wochen lang die Schrecken aller Abtransporte miterlebte. Einer an Wunder grenzenden Fügung verdanken sie es, dass sie verschont wurden und schließlich befreit wurden, so dass auch sie in die Schweiz flüchten konnten, wo sie nach langen Fußmärschen durch das Gebirge bei Verwandten Aufnahme fanden. Seit Mai 1946 sind sie in Nordamerika und haben sich dort, ebenso wie Familie Wolff, eine neue Existenz aufgebaut.
Von verschiedenen, besonders von Arthur Maschkowsky und Leo Haas, bin ich gefragt worden, wie das ganze überhaupt möglich war, und wer das Landungsverbot in Havanna erließ. Ich habe es nicht erfahren können und längst aufgegeben, es klarzustellen. Es liegt mir nicht, Schuldfragen zu klären, vielleicht leben die Menschen, die vom Schicksal ausersehen waren, eine entscheidende Rolle zu spielen, schon nicht mehr.
Ich muss da an einen alten Lehrer denken, der uns Schülern immer wieder Toleranz predigte. Er sagte nie ein böses Wort über einen Mitmenschen, nicht einmal über seine Widersacher. “Tragt euch gegenseitig nichts nach”, sagte er, “ein wirklich gebildeter Mensch tut das nicht. Wer etwas ausfrisst, bestraft sich selbst viel mehr, als andere es tun können.” In diesem Sinne lasse ich die Schuldfrage in Ehrfurcht auf sich beruhen. Wieviel schöner ist es da, von der Dankbarkeit zu reden, Dankbarkeit für alles Gute, das wir von anderen erfahren. So habe ich unzähligen Menschen zu danken, die mir halfen, unseren Passagieren auf der “St. Louis” das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Niemals aber möge die Mahnung vergessen werden, die das tragische Schicksal der schwergeprüften Passagiere des “Emigrantenschiffes” für die gesamte Menschheit bedeutet, damit sich Grausamkeit und Unmenschlichkeit, wo es auch immer sei, nie wieder breit machen können.
Dokumentenanhang
Hamburg-Amerika Linie
Die Cubanische Regierung zwingt uns den Hafen zu verlassen. Sie hat uns erlaubt, noch bis Morgen bei Tage hierzubleiben und es wird die Abfahrt hiermit auf 10 Uhr Freitag festgesetzt. Mit der Abfahrt sind die Verhandlungen keineswegs abgebrochen. Erst der durch Abfahrt des Schiffes herbeigeführte Zustand ist Vorbedingung für das Eingreifen der Mitarbeiter des Herrn Berenson und seiner Mitarbeiter.
Die Schiffsleitung bleibt in weiterer Verbindung mit sämtlichen jüdischen Organisationen und allen anderen amtlichen Stellen und wird mit allen Mitteln zu erreichen suchen, dass eine Landung außerhalb Deutschlands stattfindet und wir werden vorläufig in der Nähe der amerikanischen Küste bleiben. Kapitän, gez. Schröder
havanna still hopeful we expect definitive arrangements today - hapag new york 3639. Übersetzung: Havanna ist noch hoffnungsvoll. Wir erwarten heute endgültige Regelung.
die verhandlungen schreiten weiter fort - bitte telegraphieren sie den letzten möglichen augenblick an dem ihr proviant es ihnen erlaubt nach havanna oder st domingo zurückzukehren - hapag new york 7639
gemäß kabel aus new york wird jede mögliche bemühung durch warburg und zentral-komitee angestrengt um rückkehr nach europa zu vermeiden - hapag hamburg 8639
eure situation uns bekannt - versuchen alles unter mitwirkung einschlägiger ausländischer organisationen eine lösung zu finden - nachricht über ergebnis folgt - hilfsverein berlin 8639
herzliche grüsse - wir sind noch schwer an der arbeit - haltet eure hoffnungen aufrecht - joint havanna 8639
als europäischer vorsitzender des amerikanischen joint distribution committee möchte ich euch jede erdenkliche möglichkeit zusichern unterwegs einen hafen zu finden für die st louis passagiere der schon mit aussichten auf erfolg gefunden ist - wir hoffen in den nächsten 36 stunden definitives darüber zu erhalten - sagt den passagieren sie sollen hoffnung haben - morris o troper paris - 12 6 39
habe mit massgebenden leuten gesprochen - sie können vollkommen beruhigt sein dass alles denkbare versucht wird - max warburg new york 12 6 39
als ausschiffungshafen für alle passagiere ist definitiv antwerpen erklärt von wo aus dieselben nach den niederlanden belgien frankreich und england verteilt werden - hapag hamburg 18 6 39
Hamburg-Amerika Linie Vorstand
16. Juni 1939
Sehr geehrter Herr Kapitän Schröder!
Es ist dem Vorstand der Hamburg-Amerika Linie ein Bedürfnis, Ihnen bei Ankunft in Antwerpen mit diesen Zeilen unseren Dank auszusprechen, dass sie die “St. Louis” wohlbehalten zurückgebracht haben.
Die Aufgabe, die Ihnen und Ihrer Besatzung gestellt wurde, war nicht einfach. Der uns vorliegende Bericht des Zahlmeisters gibt ein anschauliches Bild Ihrer Ausreise und hat unseren vollen Beifall gefunden. Die Unmöglichkeit, die Passagiere in Cuba zu landen, stellte sie vor neue Aufgaben und aus Ihren Telegrammen haben wir mit Sorge Ihre Heimkehr nach Europa verfolgt. Wir beglückwünschen Sie, dass Sie es verstanden haben, das Schiff, Ihre Besatzung und Ihre Passagiere über die kritischen Tage hinwegzubringen und hoffen, dass Sie auf der Überfahrt nach New York neue Kräfte finden, die Vergnügungsreisen ab New York mit Erfolg durchzuführen.
Mit der Bitte unseren Dank und unsere Anerkennung auch Ihrer Mannschaft zum Ausdruck zu bringen, verbleiben wir
Hamburg- Amerika Linie
gez. Hoffmann - Holthusen
Dr. Ernst Vendig
69, rue des Aduatiques
Bruxelles
10. Juli 1939
Sehr geehrter Herr Kapitän!
Die überstürzt schnelle Ausbootung der Passagiere für Belgien am 17. Juni nahm mir leider die Möglichkeit, meine Absicht, mich bei Ihnen persönlich zu verabschieden, auszuführen. Ich konnte damals nur Herrn Dr. Joseph bitten, Ihnen, Herr Kapitän, meine besten Grüße und meinen Dank für all Ihr Bemühen um unser Schicksal auszusprechen, und Ihnen zugleich im Namen des Bord-Komitees und damit in dem meinen ein Erinnerungsbild an die denkwürdige Ausfahrt aus Habanna überreichen zu wollen.
Nachdem nun die Tage der äußeren und inneren Unruhe etwas gewichen sind und wir alle - die 200 Angehörigen der Belgischen St.-Louis-Gruppe - durch die dankenswerte und verständnisvolle Einstellung unserer neuen Heimat zu uns wieder einigermaßen festen Boden - im realen wie im symbolischen Sinne - unter den Füßen zu haben, ist es mir ein Bedürfnis, Ihnen einige Zeilen zu schreiben, von denen ich hoffe, dass sie Sie ehestens bei einem Zwischenaufenthalt in New York erreichen werden.
Vor allem möchte ich Ihnen meinen besten Dank für die schriftliche Anerkennung aussprechen, die Sie mir wie allen Herren des Bordkomitees für unsere selbstverständliche Betätigung im Interesse aller noch auf dem Schiff haben übermitteln lassen. Dieses Schreiben wird mir immer eine wertvolle Erinnerung bleiben an diese Tage, die bei aller Schwere doch dadurch leichter zu ertragen und zu überwinden waren, weil sie geeignet waren, den Glauben an die unzerstörbare Kraft der humanitären Idee, ein Glaube, der uns auf Grund der hinter uns liegenden Erfahrungen fast schon verloren gegangen war, wieder zurückzugeben.
In diesem Sinne bin ich Ihnen, sehr geehrter Herr Kapitän, zu ganz besonders tiefem Dank verbunden, denn Ihre Haltung - die die des ganzes Schiffes bestimmte - in diesen Tagen und Wochen gegenüber Menschen und gegenüber unserem besonderen Schicksal war für uns ein Kraftquell ganz seltener Art. Sie haben es verstanden, mit dem tiefen Verständnis für unsere Lage zugleich ein solches Feingefühl in der Behandlung aller uns berührenden Fragen zu verbinden, dass wir wussten, Sie hatten in diesen Tagen unsere Sache zu der Ihren gemacht.
Das Ihnen nochmals zum Ausdruck zu bringen, sollte der Sinn meines heutigen Schreibens sein, und ich hoffe gerne, dass Sie dieser Brief in alter Frische antrifft, die Sie wieder zurückgewonnen haben, nachdem die Arbeit und Sorgen um uns und mit uns Ihnen seit Antwerpen genommen waren.
Ich darf mich Ihnen besten empfehlen und begrüße Sie mit aller Hochachtung
ergebenst Ernst Vendig